Likrat Schabbat, mit dem ich Sie erreichen möchte, bedeutet «auf zu Schabbat» und bezieht sich auf ein Zitat von Rabbi Chanina, aufgezeichnet im Talmud Bawli (Schabbat 119a) und aufgenommen in unserem Sidur (S. 67):
באו ונצא לקראת שבתה מלכה  – «Kommt lasst uns die Königin Schabbat willkommen heissen.» Ich hoffe aus ganzem Herzen, dass Likrat Schabbat Ihnen hilft, sich auf die wöchentliche Begegnung mit Schabbat zu freuen und Schabbat zu einer speziellen, beruhigenden und vielleicht sogar nährenden Zeit zu gestalten.
Rabbiner Ruven Bar Ephraim

Gerne senden wir Ihnen Likrat Schabbat auch per E-Mail zu. Senden Sie eine entsprechende Nachricht an unser Sekretariat

Sidra Ki Tissa, 15. Adar 5785

Toralesung: Schemot (2BM) 33:12 - 34:35; Haftara: Melachim I (Könige I) 18:20 - 39.

14.03. 2025     18.45   Ma’ariw leSchabbat

15.03.2025      11.00   abgekürzter Schacharit leSchabbat

 

Hörnchen
 

Als Siebzehnjähriger war ich einer der Madrichim des Jugendclubs der liberal-jüdischen Gemeinde in Amsterdam. In dieser Funktion gehörte ich zu einer Gruppe Jugendlicher, die in Spanien an einem europäischen Kongress für jüdische Jugendarbeit teilnahmen. Es war natürlich ein grosses Abenteuer, mit etwa 150 jungen Menschen aus ganz Europa mehrere Tage zu verbringen. Ziel war es, Erfahrungen auszutauschen und möglicherweise grenzüberschreitende Projekte auf die Beine zu stellen. Durch die Erarbeitung eines Projekts in einer kleinen Arbeitsgruppe vor Ort sollten Ansätze vermittelt werden, wie man dies mit der eigenen Jugendgruppe umsetzen könnte. Ich war in einer Arbeitsgruppe, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die lokale Bevölkerung zu befragen, was sie über Juden wussten.
 

Der Kongress fand in einem kleinen Dorf namens Piedrahita statt (180 km westlich von Madrid). Dieses kleine Dorf in Zentralspanien hat eine ‘Juderia’, ein jüdisches Viertel mit einer Synagogenstrasse. Dies, obwohl seit 1492 – dem Jahr, in dem die spanischen Könige per Edikt die jüdische Bevölkerung aus ihrem Königreich vertrieben – keine Juden mehr in Piedrahita leben.
 

Mit den technischen Mitteln der 70er Jahre, einem Kassettenrekorder mit Mikrofon und einer Fotokamera, bahnten wir uns den Weg zum zentralen Platz des Dorfes, um die sich in der Sonne wärmenden Menschen zu interviewen. Wir fragten sie, ob sie wüssten, was mit den jüdischen Einwohnern des Dorfes geschehen sei. Die einhellige Antwort: «Die wohnen mit Jesus in Afrika.» Obwohl keiner von ihnen jemals eine jüdische Person getroffen hatte, wussten sie alle zu berichten, dass Juden Hörnchen und einen Schwanz haben.
 

Dass Juden Hörnchen hätten, wurde in der bildenden Kunst häufig dargestellt, unter anderem bei Michelangelos Statue des Mosche. Der Ursprung dieser Vorstellung liegt in den letzten Versen der Sidra dieser Woche, Ki Tissa. Mose steigt mit den zweiten Gesetzestafeln in seinen Händen vom Berg herab: «Als Mosche vom Berg Sinai herabstieg – und die zwei Tafeln des Zeugnisses waren in Mosches Hand, als er vom Berg herabstieg – wusste er nicht, dass sein Gesicht strahlte (karan), weil [Gott] mit ihm gesprochen hatte» (Schemot 34, 29). Das hebräische Wort für ‘strahlen’ hat dieselben Buchstaben wie das Wort für ‘Horn’ (ק-ר-נ), was Michelangelos Hörnchen zu einem Ergebnis einer Fehlübersetzung macht. Oder, wie Raschbam (1085–1174, Frankreich) in seinem Kommentar zu Schemot 34, 30 sagt: «Jeder, der die Bedeutung der Worte קָרַן עוֹר פָּנָיו - die Haut seines Gesichtes strahlte - mit וְקַרְנֵי רְאֵם קַרְנָיו - Hörner wie der Re’em hat - in Dewarim 33,17 vergleicht, ist völlig töricht. Es ist völlig normal, dass Wörter in der Tora je nach Kontext, in dem sie verwendet werden, mehr als eine Bedeutung haben.» Diese fehlerhafte Übersetzung stammt aus der lateinischen Vulgata aus dem 4. Jahrhundert. Dadurch wurde das stereotype Bild geschaffen, das Juden mit dem Teufel verglich. Es ist also nicht verwunderlich, dass die Bewohner von Piedrahita überzeugt waren, dass Juden nicht nur Hörnchen auf dem Kopf, sondern auch einen Schwanz haben.
 

Die Frage ist, ob der Übersetzer in gutem Glauben einen Fehler gemacht hat, als er anstelle von Mosches strahlendem Gesicht eines mit Hörnchen geschmücktes Gesicht machte. Wie dem auch sei, das Bild von Mosche mit Hörnchen hat sich gehalten.
 

Für mich ist das eine Warnung, wie mit einem einzigen Federstrich Vorurteile gegenüber Mitmenschen für Jahrhunderte geprägt werden können. Es ist der Beginn von Rassismus und Diskriminierung. Auch wenn wir uns in der sogenannten Ersten Welt als ‘aufgeklärt’ betrachten, liegt noch ein langer Weg vor uns, bis wir als Menschheit davon befreit sein werden.
 

Schabbat schalom,

Rabbiner Ruven Bar Ephraim