Likrat Schabbat, mit dem ich Sie erreichen möchte, bedeutet «auf zu Schabbat» und bezieht sich auf ein Zitat von Rabbi Chanina, aufgezeichnet im Talmud Bawli (Schabbat 119a) und aufgenommen in unserem Sidur (S. 67):
באו ונצא לקראת שבתה מלכה  – «Kommt lasst uns die Königin Schabbat willkommen heissen.» Ich hoffe aus ganzem Herzen, dass Likrat Schabbat Ihnen hilft, sich auf die wöchentliche Begegnung mit Schabbat zu freuen und Schabbat zu einer speziellen, beruhigenden und vielleicht sogar nährenden Zeit zu gestalten.
Rabbiner Ruven Bar Ephraim

Gerne senden wir Ihnen Likrat Schabbat auch per E-Mail zu. Senden Sie eine entsprechende Nachricht an unser Sekretariat

Sidra Wajera, 15. Cheschwan 5785

 

Toralesung: Bereschit [1BM] 21:22 - 22:24. Haftara: Jirmeja 19:1 - 13, 20:7 - 13

15.11.2024        18.45    Ma‘ariw leSchabbat

16.11.2024        10.00    Schacharit leSchabbat

 

Falsch interpretiert?
 

Die Weise, wie Awraham in der Tora beschrieben wird, ist bemerkenswert. Er ist ein gottesfürchtiger Mann, der die göttlichen Befehle unverzüglich ausführt, wie beispielsweise der Umzug nach Kena’an (Bereschit 12, 5), die Beschneidung von sich selber, Jischmael und den ganzen Haushalt (Bereschit 17, 9–14) und das Binden (opfern) von Jizchak (Bereschit 22). Er wird als jemand dargestellt, der sich um Menschen kümmert, wie zum Beispiel die Rettung seines Neffen Lot (Bereschit 12, 12–16), seine gerühmte Gastfreundschaft  (Bereschit 18, 1–8) und die Verhandlungen mit dem EWIGEN über das Schicksal der Einwohner der Städte Sodom und Gomorra (Bereschit 18, 20–32). Dem steht jedoch gegenüber, dass er zweimal seine Frau Sara einem fremden Herrscher gibt, um seine eigene Haut zu retten (Bereschit 12, 10–20 und 20, 1–16).
 

Ein für viele Leute problematischer Text ist die Episode, die wir in der Sidra dieser Woche, Wajera, lesen und die auf Hebräisch Akedat Jizchak (oder die Akeda) – das Binden von Jizchak – genannt wird. Es ist die Erzählung des Auftrages Gottes an Awraham: «Nimm deinen Sohn, deinen Einzigen, den du lieb hast, Jizchak, und geh in das Land Morija und bring ihn dort als Brandopfer dar auf einem der Berge, den ich dir nennen werde.» (Bereschit 22, 2). Der Text gibt uns keine Information über seine Gemütsverfassung angesichts dieses schrecklichen Befehls. Ohne mit Sara zu sprechen, macht er sich am nächsten Morgen früh zusammen mit Jizchak auf den Weg. Er bindet Jizchak auf den Altar, hebt das Messer und hört im gleichen Moment eine Stimme: «Strecke deine Hand nicht aus gegen den Knaben und tu ihm nichts, denn nun weiss ich, dass du gottesfürchtig bist, da du mir deinen Sohn, deinen einzigen, nicht vorenthalten hast.» (Bereschit 22, 12).
 

Dieses Verhalten von jemandem, den die Tora als gottesfürchtig darstellt und von dem wir als seine Nachkommen den Glauben an und das Vertrauen auf den einen unsichtbaren EWIGEN geerbt oder übernommen haben, versetzt mich in kognitive Dissonanz. Was passiert hier? Wie kann ein gerechter Gott so etwas fordern? Wie kann ein gerechter Mensch bereit sein, einen solchen Auftrag auszuführen?
 

Sich mit dem Beschriebenen schwerzutun, ist nicht nur ein Phänomen unserer Zeit, sondern eines aller Zeiten. In einem der ältesten Kommentare zur Tora, dem Midrasch Bereschit Raba (56, 8), sind die talmudischen Rabbinen der Meinung, dass das alles ein Missverständnis war: «Rabbi Acha sagte: ‚Awraham begann sich zu wundern: (…) Gestern sagtest du mir: (Bereschit 21:12) Denn in Jizchak soll dein Same genannt werden. Und [dann] kamst du zurück und sagtest: Nimm doch deinen Sohn (Gen 22, 2). Und jetzt sagst du zu mir: Lege deine Hand nicht an den Knaben (Bereschit 22, 12). Der Heilige, gesegnet sei Er, sprach: Awraham, (…) als ich sagte: Nimm doch deinen Sohn, sagte ich nicht: schlachte ihn, sondern: bringe ihn hinauf. Um der Liebe willen habe ich es dir gesagt: Ich sagte dir ‘bringe ihn hinauf’, und du hast meine Worte erfüllt. Und nun ‘bringe ihn hinunter’. Mit dieser Auslegung versuchen die Rabbinen, Gott sozusagen die Schuld zu geben, er habe nicht klar kommuniziert.

Rabbiner Joseph B. Soloveitchik, ein amerikanischer orthodoxer Rabbiner und Philosoph (1903–1993), legt die Ursache des Geschehens bei Awraham: «Der Mensch des Glaubens (...) ist fähig, einen Punkt zu erreichen, an dem nicht nur seine Verstandeslogik, sondern auch seine Herzenslogik und die Logik seines Willens, ja alles – selbst sein eigenes Ich-Bewusstsein – einer ‚absurden‘ Gotteswidmung weichen muss. Der Mensch des Glaubens ist ‘verrückt’ ergeben und ‘wahnsinnig’ verliebt in Gott.» (The Lonely Man of Faith, 1992, S. 60–61).
 

Wie kann ein moralischer Gott einen unmoralischen Auftrag geben? Wie kann ein Mensch einen unmoralischen Auftrag ausführen? Die erste Frage haben die talmudischen Rabbinen des Talmuds mit ihrer Entscheidung gelöst, dass mit den letzten Propheten, Chaggai, Secharja und Mal’achi, das Zeitalter der Prophetien endete (Talmud Bawli 14b). Es musste niemandem mehr geglaubt werden, der behauptet, dass das Wort Gottes zu ihm gekommen sei; zumindest wurden keine Entscheidungen für das Volk darauf gegründet. Wie das geschriebene Wort Gottes zu leben sei, wurde von da an nur noch durch die Diskussion zwischen Menschen entschieden.
 

Die Worte von Soloveitchik können als Antwort auf die zweite Frage angesehen werden und sogar als Unterstützung für das Verhalten religiöser Fanatiker, wie wir sie bis in die heutige Zeit kennen. Die Botschaft der talmudischen Rabbinen gegen solche Formen von Fanatismus lautet: Vielleicht haben wir das Gehörte oder Geschriebene falsch interpretiert.
 

Schabbat Schalom,

Rabbiner Ruven Bar Ephraim