Likrat Schabbat
Likrat Schabbat, mit dem ich Sie erreichen möchte, bedeutet «auf zu Schabbat» und bezieht sich auf ein Zitat von Rabbi Chanina, aufgezeichnet im Talmud Bawli (Schabbat 119a) und aufgenommen in unserem Sidur (S. 67):
באו ונצא לקראת שבתה מלכה – «Kommt lasst uns die Königin Schabbat willkommen heissen.» Ich hoffe aus ganzem Herzen, dass Likrat Schabbat Ihnen hilft, sich auf die wöchentliche Begegnung mit Schabbat zu freuen und Schabbat zu einer speziellen, beruhigenden und vielleicht sogar nährenden Zeit zu gestalten.
Rabbiner Ruven Bar Ephraim
Gerne senden wir Ihnen Likrat Schabbat auch per E-Mail zu. Senden Sie eine entsprechende Nachricht an unser Sekretariat
7. Tag Pessach, 21. Nissan 5785
Toralesung: 1. Sefer Schemot (2BM), 14:5 - 15:21,
2. Sefer Maftir Wajikra (3BM) 23:1 - 8; Haftara: Jeschaja 11, 1-10 und 12, 1-6.
18.04.2025 18.45 Ma’ariw leSchabbat uleSchwi’i schel Pessach
19.04.2025 09.30 Schacharit leSchabbat uleSchwi’i schel Pessach
Pessach, Sman Cherutenu – Zeit unserer Befreiung.
Die Rituale während Pessach führen uns immer wieder vor Augen, in welch schlimmer Lage sich unsere Vorfahren in Ägypten befanden und wie sich diese durch göttliche Zeichen und Wunder in unsere Befreiung verwandelte. Die Befreiung aus dem ‘Haus der Knechtschaft’ von einst feiern wir mit all unseren Sinnen. Wir essen das Brot des Elends, die Mazza, und schmecken die Bitterkeit der Sklaverei mit dem Maror, dem Meerrettich, der – wenn es scharf genug ist – sich sogar in unseren Augen und unserer Nase bemerkbar macht. Selbst das junge Grün – Rettich oder Petersilie – das den Frühling symbolisiert, wird mit der Salzigkeit der Tränen der Sklaverei vermischt. Das süsse Charosset ist nicht so süss, wie es scheint, sondern steht für den Mörtel, den unsere Vorfahren als Versklavte beim Bau der pharaonischen Städte verwendeten.
Eingebaut in das Pessach Ritual ist das Bewusstsein, dass unsere damalige Freiheit auf Kosten der Ägypter ging. Sie litten unter den Plagen, die über Ägypten kamen: Wassermangel, Missernten, Krankheiten, Insekten und der Tod der Erstgeborenen. Auch die Zerstörung des Heeres, das im tosenden Meer ertrank, gehört dazu. Während des Seders mindern wir unsere Freude ein wenig, indem wir für jede der zehn Plagen, die wir aufzählen, einen Tropfen Wein ‘opfern’, indem wir ihn auf eine Serviette tropfen. Auch die Liturgie in der Synagoge macht uns das Leid bewusst, das die Ägypter für unsere Befreiung ertragen mussten. Hier ist das Halel gemeint – die fünf Psalmen (113–118), die zu Schawu’ot, an allen Tagen von Sukkot, zu Simchat Tora, allen Chanukka-Tagen und an Jom Ha’azma’ut feierlich und vollständig während des Schacharit gesungen werden. Am ersten Tag von Pessach tun wir das auch. Doch ab dem zweiten Tag und einschliesslich des siebten Feiertags wird Halel in verkürzter Form gesungen.
Der Midrasch sagt dazu: Die Dienstengel wollten ein Lied anstimmen, da sprach der Heilige, gepriesen sei Er, zu ihnen: Mein Händewerk ertrinkt im Meer – und ihr wollt ein Lied anstimmen!? (Talmud Bavli Megilla 10b).
Wir mindern unsere Freude – selbst wenn es um den Feind geht, der untergeht. Das entspricht dem, was wir im Buch Mischle lesen: Freue dich nicht, wenn dein Feind fällt, und dein Herz soll nicht jubeln, wenn er strauchelt (Mischle [Sprüche] 24,17).
Die Aufforderung, Erbarmen mit Menschen zu zeigen, die grosses Leid erfahren haben oder ihr Leben lassen mussten, damit wir Freiheit erlangen konnten, fällt mit einer zeitlichen Distanz von ca. 3200 Jahren nicht sehr schwer. Wie schwer ist es wirklich, zehn Tropfen Wein oder Traubensaft nicht zu trinken und ihnen ihre Rolle in unserer Geschichte zu widmen? Welches Leid ertragen wir, wenn wir am siebten Pessachtag zwei Abschnitte von jeweils einem Psalm nicht singen? Andererseits: Diese Minhagim existieren und werden eingehalten – sie sollten uns sensibel machen für menschliches Leid, besonders wenn dieses Leid dazu diente, unsere Lage zu verbessern.
Eine hypothetische Frage:
Wie hätte sich der Nahostkonflikt seit 1948 entwickelt, wenn das Feiern der Unabhängigkeit mit dem Bewusstsein verbunden gewesen wäre, dass diese Unabhängigkeit viel Leid, Tod und Zerstörung über die arabischen Bewohner des Mandatsgebiets gebracht hat? Und wenn wir z. B. einen Minhag eingeführt hätten, bei dem wir bewusst ein Falafelbällchen nicht essen, um unsere Freude zu mindern – und wenn wir ein Lied aus dem Potpourri von Jom Ha’azma’ut bewusst nicht sängen, um uns so das den arabischen Einwohnern zugefügte Leid ins Gedächtnis zu rufen, hätten wir das heutige grosse Leid unschuldiger Menschen vermeiden können?
Die talmudischen Rabbiner erkannten, dass Zorn, Groll – aber auch das Einnehmen einer Opferrolle – zerstörerisch für das Leben ist. Das Schöne an diesen Pessach-Minhagim ist, dass sie das Leid der Ägypter zu einem Teil der Feier machen. Unsere Freude wird dadurch nicht wirklich gemindert – und wir feiern unsere Freiheit nicht weniger intensiv. Aber wir erweitern unseren Blick auf das damalige Geschehen und werden uns der von Gott gegebenen Fähigkeit zum Erbarmen mit unseren Mitmenschen bewusst – und aufgefordert, diese zu aktivieren.
Schabbat Schalom, Chag Sameach,
Rav Ruven Bar Ephraim